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Trainingsimpressionen
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Hat Kano alle Schlag- und Tritttechniken entfernt?

von Wolfgang Dax-Romswinkel 6. Dan

Nicht alles, was häufig behauptet wird, stimmt auch. Wir räumen mit Irrtümern auf, die in vielen Köpfen fest verankert sind, und tauchen dabei tief in die Judomaterie ein.

 

In Beschreib ungen stoßen wir immer wieder auf folgende, beispielhaft zitierte Auffassung : "Entscheidend für den Erfolg des Judo war es aber auch, dass Kano alle tödlichen Techniken sowie Schlag- und Tritttechniken und Techniken, die Angriffe auf Finger-, Fuß- und Beingelenke beinhalteten, vollständig aus dem Judo entfernte." Ist das wirklieh so? Nun, wer schon einmal Kime-no-kata oder Kodokan Goshinjutsu geübt oder gesehen hat, weiß natürl ich , dass hier etwas nicht stimmt. Dennoch sehen viele Judo-praktizierende keinen Grund, an dieser Aussage zu zweifeln. Was hat es mit jenen "gefährlichen Techniken", die Kano vollständig aus dem Judo entfernt haben soll, also auf sich? Wir beschränken uns hier auf die Schlag- und Tritttechniken (Atemi-waza). Wer Handgelenk- und Beinhebel im Judo sucht, findet diese übrigens in Kodokan-Goshinjutsu und Katame-no-kata. Im Kodokan-Judo werden die Techniken nach dem gleichnamigen Buch (siehe Lesetipps) in drei Gruppen unterteilt:
Nage-waza , Katame-waza und Atemi-waza. Damit könnte dieser Beitrag enden. Da jedoch Meinungen, wie die oben zitierte, weit verbreitet sind, wollen wir etwas tiefer schürfen. Die Atemi-waza im Kodokan-Judo haben wie die Katame-waza ihre Hauptquelle in den Techniken des Tenjin-shinyo-ryu-Jujitsu, Sie stellen damit seit Kodokan-Gründung
neben den Nage- und den Katame-waza den dritten Bereich der Techniken im Kodokan -Judo dar. Jigoro Kano entfernte sie also mitnichten aus den alten Systemen, um daraus Judo zu formen. Aber wie konnte es zu diesem Missverständnis kommen?
Die Antwort ist eigentlich einfach. Kano erlaubte zur Vermeidung von Verletzungen die Anwendung von Atemi-waza nicht im üblichen Randori. Damit nahm er jedoch nichts weiter vor, als eine trainingsmethodische Beschränkung, nicht jedoch eine Reduktion des technischen Spektrums im Kodokan-Judo. Da Randori, wie weiter unten noch erläutert
wird, im Laufe der Zeit populärer wurde, kam es zur Vernachlässigung aller Techniken, die dort nicht angewendet werden dürfen. Dadurch rückte allerdings eines der Ziele im Kodokan-Judo in den Hintergrund.

Judoziel Selbstverteidigung
Sich und andere schützen können, ist seit Ende des 19. Jahrhunderts unverändert eine der drei Säulen im Kodokan-Judo.
Es kennt drei Ziele:

Leibesertüchtigung:
Verbesserung der Gesundheit und der körperlichen Leistungsfähigkeit;

Kultivierung des Geistes:
Ausbildung des Charakters, des Verstandes und der Moral, insbesondere der Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft;

Selbstverteidigung:
sich und andere im Bedarfsfall schützen können.

Prägnant äußert sich Kano Mitte der 1920er·Jahre zum dritten Punkt: "Respekt vor dem Leben ist universell. Wenn das eigene Leben in Gefahr ist, ist es erlaubt , jedes zur Verfügung stehende Mittel anzuwenden, um die Gefahr abzuwenden.
Aber auch wenn das eigene Leben nicht in Gefahr ist, gibt die Fähigkeit, eine Gefahr abwehren zu können, Selbstvertrauen.
In einer Gesellschaft, in der die Menschen nach Recht und Gesetz leben, können unerwartete Gefahren in Form von Unfällen, durch die Hand von Kriminellen oder von unerwarteten Seiten wie wilden, streunenden Hunden kommen. Jedes Individuum benötigt deshalb grundlegende Fähigkeiten, sich schützen zu können und derjenige, der
systematisch die Techniken von Angriff und Verteidigung trainiert hat, kann seine eigene Sicherheit gewährleisten. Die Bedeutung von Atemi-waza in diesem Zusammenhang ist offensichtlich" (übersetzt aus Bennen, 2009, S. 62).

Hier stoßen wir auf eine weitere Frage, die häufig kontrovers diskutiert wird :
Ist Kodokan-Judo auch ein System zur Selbstverteidigung? Dies muss uneingeschränkt bejaht werden, denn Selbstverteidigung ist – siehe oben - eine der drei Säulen im Kodokan-Judo und die nach Kanos Tod entstandene.Kodokan -Selbstverteidigung" (jap.: Kodokan -Goshinjutsu) ist ohne jeden Zweifel vitaler Bestandteil des Kodokan-Systerns. Selbstverteidigung und Atemi-waza sind also keineswegs vergangene Geschichte, aus der Judo entstanden ist.

Kano definiert Atemi-waza
In einem Vortrag von 1889 erklärt Kano diese Technikgruppe folgendermaßen:
" Ich komme nun zu den Tritten und Schlägen (...). Sie werden im traditionellen Jujutsu auch als Atemi bezeichnet. Mit diesen Techniken schlägt oder drückt man mit seinen Händen, Füßen oder dem Kopf Körperteile des Gegners, die leicht verletzt werden können. So kann man dem Partner Schmerzen zu fügen, ihn für eine Weile in Ohnmacht
fallen lassen oder sogar töten. Am häufigsten schlägt man mit der Faust zwischen die Augen, auf die Brust oder etwas unterhalb des Sternums. Oder aber tritt ihm mit den Fußspitzen in die Hoden" (Niehaus, 2003 , S. 285) . Angriffsziele der Atemi-waza sind demnach in erster Linie "empfindliche" Körperteile. Kenntnisse über die von Kano erwähnten Körperstellen gehörte n zu den arn besten gehüteten Geheimnissen der traditionellen Jujutsu-Schulen . Das Wissen stammt aus dertraditionellen chinesischen Medizin und findet Anwendung in Praktiken wie Akupunktur, Akupressur oder dem japanischen Shiatsu . Der Kodokan erklärt diese "Vitalpunkte" folgende rmaßen: "Der menschliche Körper hat zahlreiche empfindliche Stellen : Gelenke, Verbindungspunkte von Knochen und Muskeln oder von Muskeln mit anderen Muskeln , weiche Teile, die nicht durch Knochen oder Muskeln geschützt sind oder etwa Stellen, wo lebenswichtige Organe relativ nahe an der Körperoberfläche sind. Genau wie die Schlag-, Stoß- oder Tritttechniken selbst wurde auch das Wissen über die damit verwundbarsten KörpersteIlen aus der Tenjin- shinyo-Schule ins Judo übernommen" (aus Kod okan -Judo, 2007, S. 138).

Der Schlüssel
Das Kodokan-Judo beinhaltet ein breites Spektrum unterschiedlicher Atemi-waza. Die Systernatisierung und Benennung ist jedoch nicht in gleicher Weise durchstrukturiert wie bei den Nage- oder Katame-waza. Die übliche Einteilung folgt nicht den angegriffenen Vitalpunkten, sondern den Körperteilen, mit denen geschlagen, gestoßen oder getreten wird. Hauptsächlich wird zwischen Ude-ate ("schlagen, stoßen mit den Armen") und Ashi-ate (alle Formen des Tretens) unterschieden.
Atemi-waza werden normalerweie in Form von Kata geübt und sind in den Kodokan-Kata überliefert. Dort tauchen sie in unterschiedlichen Kontexten auf: als Angriffe, gegen die verteidigt wird; als vorgeschaltete Technik einer nach folgenden age- oder Katame-waza: als Abschlusstechnik. mit der der Angreifer kampfunfähig gemacht wird. Die zentrale Kata für Training und  Vermittlung der Atemi-waza ist Kime-no-kata. Dort erfüllen sie (bei drei Ausnahmen) weniger die Funktion von Abschlusstechniken, sondern ihre Anwendung ist meist so eingebettet , dass im Falle einer nicht fatalen Wirkung sofort eine "sichere" Abschlusstechnik angesetzt werden kann. Die Bewegungen der Atemi-waza müssen also so ausgefuhrt werden, dass man nachfolgend so schnell und effektiv wie möglich zu anderen Techniken übergehen kann.

Die Vernachlässigung
Randori und Wettkampf übten schon im frühen 20. Jahrhundert eine ungeheure Faszination auf die Übenden aus, sodass bei den Kodokan-Schülern eine gewisse Nachlässigkeit beim Üben von Kata auftrat. Hierdurch kam es zwangs läufig auch zu einem ers ten Rückgang bei den Atemi-waza, dem Kano entgegenwirken wollte. Aber er sah sich noch mit einem anderen Problemkonfrontiert : Obwohl die Zahl der Übenden kontinuierlich bis auf mehrere Hunderttausend in den in 1920er-Jahren gestiegen war, hatte sich Judo noch nicht zu der Massenbewegung entwickelt, wie es sich Kano gewünscht hatte. Nach seinen Vorstellungen sollten möglichst alle Japaner Judo betreiben, sah er doch darin ein ideales System der physischen wie geistig-moralischen
Volkserziehung.
Aus diesen beiden Gründen entwickelte Kano aus dem breiten technischen Fundus ab den 1920er-Ja hren die Seiryoku-zenyo-kokumin-taiiku-no-kata, die "Form der nationalen Leibesübung auf der Grundlage des Prinzips des bestmöglichen Einsatzes von Körper und Geist ". Sie besteht aus den zwei Teilen Tandoku-renshu (Üben ohne Partner) und Sotai-renshu(Üben mit Partner). Der erste Teil wird vor allem durch Atemi-waza gegen imaginäre Gegner gebildet. Die Sotai-renshu bestehen aus der Kime-shiki und der Ju-shiki, einer auf zehn Techniken verkürzten Ju-no-kata . Seiryoku-zenyo-kokumin-taiiku-no-kata stellt so mit eine weitere Kata zum Training der Atemiwaza dar, eben den genannten Kime-no-kata
und Seiryoku-zenyo-kokumin-taiiku-no-kata (einschließlich der enthalte nen Kime-shiki und Ju-shiki) gibt es Atemi-waza noch in der Kodokan-Goshinjutsu und in der Ju-no-kata. Sie sind dort in ähnlicher Weise als Angriffe, Verteidigungen und in Kombinationen eingebettet wie in Kime-no-kata,

Atemi-waza im Randori
In den 1880er-Jahren scheint es Randori-Formen gegeben zu haben, in denen auch Atemi-waza angewendet wurden. Jigoro Kano sagte 1889: "Für den Kampf, in dem geschlagen und gestoßen wird , ziehen sich die Gegner Handschuhe an , sodass die Methode des Randori-Kampfes kaum Einschränkungen unterliegt" (Niehaus , 2003 , S. 285) . Weitere Quellen sind nicht bekannt, die diese Praxis im Kodokan-Judo untermauern würde. Bekannt ist dagegen , dass Kano in den 1920er Jahren Überlegungen anstellte, Randori- Formen zu entwickeln , in denen Atemi- waza eingesetzt werden. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass derartige Randori-Formen bis dahin am Kodokan nicht praktiziert wurden . Auf die Frage eines Studenten diesbezüglich antwortete er: " Ich glaube, dass es nicht ausgeschlossen ist, einen Weg zu finden, Randori und Wettkämpfe durch zuführen , die Atemi-waza einschließen, so lange es schrittweise passiert und inen siven Studien folgt " (übersetzt aus Bennett 2009, S. 62 ).
Ein derartiges System wurde jedoch von Kano nicht mehr entwickelt, sondern lediglich kurzfristig bei der militärischen Erziehung während des 2. Weltkriegs also nach Kanos Tod - praktiziert.

Wenig Berührungspunkte
Aussagen der Art , dass es keine Atemi-waza im Judo gäbe und/oder dass Judo keine Selbstverteidigung sei, sind ein solch eklatater Unsinn, dass derartige "Informationen" schnellstmöglich aus dem öffentlichen Raum verschwinden sollten. Vereine und Verbände sollten sich an die kritische Überprüfung ihrer Homepages machen . Das Problem hinter dem Problem besteht jedoch darin, dass die Kodokan-Kata, die den Kern der Selbstverteidigung und der Atemi-waza repräsentieren, zum einen erst im Prüfungsprogramm der höheren Dan-Grade (frühestens ab 3. Dan) auftauchen und zum anderen abgewählt und durch andere Kata ersetzt werden können. So ist es kein Wunder, dass selbst hohe Dan-Träger in ihrem Judoleben kaum mit Selbstverteidigung und /oder Atemi-waza in Berührung gekommen sind.
Die Gründung von separaten Verbänden, die sich ab etwa den 1970er-Jahren mit mehr oder weniger authentischer japanischer Selbstverteidigung befassen (Ju-Jutsu, Jiu-jitsu usw.), führte zur Abwanderung von selbstverteidigungsaffinen Judokas in diese Verbände und zu einer weiteren Konzentration der Übrigen auf Wettkampfjudo. Dies wirkte als Katalysator für die fast vollständige Vernachlässigung der Selbstverteidigung und der Atemi-waza im Judo über Jahrzehnte hinweg. Wer aber Judo bewusst oder unbewusst auf weniger Facetten begrenzt, nimmt sich und anderen ein Stück kulturelle Vielfalt. Insofern kommen die jüngsten Versuche des DJB, Selbstverteidigung und Atemi-waza wieder mehr ins Bewusstsein zu rufen, zwar spät, sind aber richtig und wichtig.

Quelle: Judo-Magazin 02/13